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Härtetest für Wasserstoffträume

MZ vom 07.08.2020

„Man liest derzeit viel über mögliche Wasserstoffideen, 30 Prozent davon werden Fantasie bleiben, 60 Prozent bleiben zwischendurch stecken. Das hier ist eines der wenigen Projekte, die tatsächlich umgesetzt werden", lobte Andreas Dietrich am Donnerstagvormittag in Leuna. Das Ereignis, das den Großkundenbetreuer des Gasproduzenten Linde so euphorisch stimmte, war der Spatenstich für eine Elektrolysetest- und -versuchsplattform (ELP) der Fraunhofer-Gesellschaft. Das 9,2 Millionenprojekt soll helfen, das südliche Sachsen-Anhalt zur Avantgarderegion des grünen - klimaneutral produzierten - Wasserstoffs zu machen.

„Wenn wir den Umstieg zur Wasserstoffregion hinkriegen wollen, dann müssen wir etwas tun", formulierte Wirtschaftsminister Armin Willingmann (SPD), der in Leuna mitschüppen durfte, weil das Land acht Millionen Euro beisteuert. Das verbaut das Fraunhoferinstitut für Mikrostruktur von Werkstoffen und Systemen (IMWS). Das Institut errichtet - der Plan ist bis Jahresende - nun unmittelbar vor den hoch aufragenden Steamern, in denen Linde heute Wasserstoff auf konventionellem Wege aus Erdgas produziert, die ELP. Das soll eine Plattform werden, die an die Infrastruktur des Chemiestandorts angeschlossen ist und auf der Hersteller von Elektrolyseuren Prototypen probieren können.

,,Wir testen die Systeme auf Herz und Nieren", blickte Sylvia Schattauer, stellvertretende Chefin des Fraunhofer IMWS voraus. Verschleißprozesse könnten im Zeitraffer simuliert werden. Es ließe sich auch testen, wie gut die Systeme mit schwankender Last klar kämen - in die spätere Praxis gedacht, also mit wechselnden Windstärken. Denn das ist die Idee hinter dem grünen Wasserstoff: Elektrolyseure trennen mittels Wind- oder Solarstrom Wasser in Sauer- und Wasserstoff. Das könnte eine Antwort auf die zentrale Frage der Energiewende sein, wie sich überschüssiger Strom aus erneuerbaren Quellen speichern lässt.

Für die Anrainer des Chemiestandorts Leuna ist jedoch eine andere Nutzung interessant: Den konventionell produzierten Wasserstoff durch grünen zu ersetzen. Dafür wären freilich enorme Mengen notwendig. Linde produziert derzeit allein in Leuna 70.000 Kubikmeter pro Stunde. 85 Prozent davon blieben im Chemiedreieck, berichtete Linde-Mitarbeiter Dietrich. Seine Firma ist an der Versuchsplattform, die bei kompletter Auslastung bescheidene 300 Kubikmeter in der Stunde produzieren soll, beteiligt. Gemeinsam mit dem Fraunhofer kümmert man sich um den Betrieb. Das Forschungsinstitut sammelt die Daten der Anlagen. Linde steuert sie aus seiner Leitstelle und leitet den gewonnen Wasserstoff in die eigenen Systeme ein.

Dietrich ist von der Zukunft des Wasserstoffs überzeugt. Der werde eine wichtige Rolle bei der Energiewende spielen. Für die grüne Variante sieht er allerdings einen Hemmschuh: den Preis. Der sei noch zu hoch, weil die Elektrolyseure per Hand produziert würden. Dietrich hofft deshalb auf eine Automatisierung der Produktion. ,,Wenn die Kostenfrage geklärt ist, kann die Industrie sofort auf grünen Wasserstoff umstellen."

Auf dem Weg dahin können Hersteller wie Siemens oder Sunfire, die als erste zwei der drei Testplätze besetzen werden, mit Hilfe der Versuchsplattform ihre Prototypen optimieren - direkt in einem Chemiepark, wie am Donnerstag alle Akteure betonten. Zu denen zählte auch Willi Frantz, Chef der Total-Raffinerie Leuna. Die brauche sowohl bei der Methanolproduktion als auch für Hydrierungsprozesse, also das Abscheiden von Fremdstoffen während der Erdölverarbeitung, große Mengen Wasserstoff. Bisher konventionellen. Er könne sich aber einen Ersatz durch grünen vorstellen, sagte Frantz und verwies auf die Wasserstoffstrategie des Bundes, die vorsehe, dass künftig 40 Prozent der installierten Wasserstoffkapazitäten in der Nähe von Raffinerien entstehen sollen.

Das Fraunhofer will aber nicht beim Thema Wasserstoff stehen bleiben. Auf der Plattform ließen sich auch Anlagen testen, die am Ende andere Stoffe produzieren. „Wir werden uns zukünftig auch der Frage annehmen, was alternative Quellen für Kohlenstoff sein könnten, etwa Kunststoffabfälle", erklärte Schattauer. Derzeit liefen die Planungen für ein neues Fraunhofer-Institut für Wasser-und Kohlenstoffprozesse mit Hauptsitz Leuna. Das solle nächstes Jahr an den Start gehen.

Und noch ein drittes Großprojekt avisiert die Fraunhofer-Gesellschaft am Chemiestandort Leuna: ein Reallabor. Dort sollen dann die getesteten Elektrolyseure im großen industriellen Maßstab mit zehnfacher Produktionsleistung laufen. Der Bund will das aus dem Topf für den Strukturwandel nach dem Kohleausstieg fördern. Insgesamt ist die Finanzierung laut Schattauer aber noch nicht geklärt. Das Reallabor könnte ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg zur Wasserstoffregion und zu einer grüneren Chemie werden. Linde-Mann Dietrich hält die nicht für Fantasie: ,,Eine Chemie fast ohne fossile Rohstoffe ist möglich."